Vor zirka 20 Jahren habe ich das erste Mal darüber nachgedacht, dass ich mal mehr darüber nachdenken sollte, welche Rolle Winckelmanns Homosexualität für seine Neu-Entdeckung der Antike spielte – und vor allem für seine revolutionäre Art darüber zu schreiben. Denn das ist ja seine eigentliche Leistung: Den materialen Objekten der Antike, vor allem den Statuen, ihren Körper zurückgegeben zu haben, gegen eine antiquarische Altertumswissenschaft, die sie fast ausschließlich als Teil eines Text-Korpus und als ein philologisches Problem gesehen hat, vielleicht nur sehen konnte. Winckelmann hat wie ein Künstler auf die Skulpturen geschaut, und wie ein Liebender. Und er hat daraus Konsequenzen für die Art gezogen, wie man sinnvollerweise über Kunstwerke nachdenkt und schreibt. Wahrscheinlich hat er damit die Kunst und das Wissen über sie wieder oder neu anschließbar gemacht an eine Welt, in der sie ihre Funktion als Repräsentantin des Heiligen und / oder der (königlichen) Macht verloren hatte. (Aber eigentlich nur einer bestimmten Art Kunst: Die Kunst, die zeitgenössisch unglaublich beliebt war, das kleine Bric-a-Brac des Rokoko, die mochte er nicht – gerade weil das eine Kunst ist, die ihre Konsequenz aus der Lächerlichkeit höherer, repräsentativer Ansprüche zieht – also dessen, was die meisten Klassizisten eigentlich von ihrer Kunst wollen. Aber dass Winckelmanns kunstgeschichtliche Methode auch mit Rokoko-Kunst funktioniert, zeigt, dass es hier um mehr geht als um eine Idiosynkrasie.)
Aus dieser veränderten Position gegenüber dem Gegenstand haben sich erst die moderne Kunstgeschichte und die Klassische Archäologie entwickeln können: Als Enthusiast und Verehrer tritt man gleichzeitig näher an die Statue, an die antike Kunst generell heran, gleichzeitig wird sie durch den herausgehobenen Status als das größte Kunstwerk, das ideale Kunstwerk schlechthin, quasi die Stein gewordene platonische Idee der Kunst in die Unerreichbarkeit gerückt. Damit hat Winckelmann das Paradox von Normativität und Historisierung formuliert, das bis heute die Kunst- und Literaturwissenschaft plagt und treibt – auch wenn die beiden seit einigen Jahren alles tun, ihre normativen Aspekte unter den Teppich zu kehren, und sie damit unansprechbar und damit auch unveränderbar zu machen. Seltsamerweise mit einem nominell emanzipatorischen Impetus: Weg mit der Höhenkamm-Literatur- & Kunstgeschichte, weg mit dem Kanon – das war & ist, sehr zurecht, die Devise. Strukturalistische, post-strukturalistische, systemtheoretische und diskursanalytische Methoden seien viel besser als die Hermeneutik und Philologie geeignet, sich mit Kunst bzw. kulturellen Praxen und Objekten überhaupt auseinanderzusetzen. Aber, oh Wunder, seit mehr als 20 Jahren (so lange ist das ja schon am Start in Akademien und Kunstbetriebien) sind es immer noch vorwiegend weiße Menschen, die meisten davon Männer, die meisten davon verheiratet mit Kind, die bestimmen, was gelesen, geschaut, ausgestellt und aufgeführt wird – und es sind immer noch dieselben Kanon-Künstler, die ausgestellt, gelesen, aufgeführt werden. Aber langsam scheint sich wirklich was zu tun, und da wird eine Figur wie Winckelmann wieder interessant. (Vielleicht auch weil die Universität und das Akademische nicht nur in Deutschland einen dramatischen Verlust ihrer Bedeutung in gesellschaftlichen Diskursen und Debatten verzeichnen.)
Zum Glück hat der Schustersohn aus Stendal 300 Jahre Geburtstag gehabt, sonst hätte ich ihn vielleicht weiter in meiner akademischen Vergangenheit beerdigt gelassen. Als ich um 2000 über ihn promovierte, hatte ich schon so etwas im Kopf wie den queeren Idealismus, aber so richtig auf die Strecke habe ich es nicht bekommen (obwohl ich mit der Arbeit recht zufrieden bin), auch weil mir damals das richtige Umfeld dafür fehlte – Graduiertenkolleg hin oder her, eine sinnvolle akademische Betreuung der Arbeit fand nicht statt, wie auch das Konzept Graduiertenkolleg von einigen der beteiligten Professoren der Justus-Liebig-Universität genutzt wurde, um sich vollends aus der Betreuung von Qualifikationsarbeiten zu verabschieden. Darunter auch mein „Doktorvater“, Guenter Oesterle. Aber das ist eine andere Geschichte.
Als ich für meinen Geburtstagsartikel in der FAZ die Literatur zu Winckelmann durchging, fiel mir auf: Die in den späten 1990er Jahren einsetzende Forschung zu Winckelmann als queerer, homosexueller, irgendwie devianter Figur war immer noch kein Teil der akademisch bevorzugt betriebenen Winckelmann-Forschung geworden, und abgesehen von einigen angelsächsischen Arbeiten hatte sich im deutschsprachigen Raum fast gar nix mehr dazu getan. Stattdessen kreiste man hier immer noch, schon wieder in der im schlechtesten Sinne philologischen Rekonstruktion seiner Lektüren, möglicherweise gesehenen Kunstwerke, möglicherweise gekannten Leute – alles sehr interessant und legitim, aber ohne irgendwelchen Erkenntnisfortschritt gegenüber der 3-bändigen Winckelmann-Biographie des großen Carl Justi. (In der Winckelmann-Forschung kann man zwar die bizarrsten Theorien über Winckelmanns Ermordung aufstellen und wird damit von der Winckelmann-Gesellschaft gedruckt, aber dass der Mann junge, gutaussehende Männer angehimmelt hat, hat natürlich rein gar nichts mit seinem Werk zu tun. Dass das mal klar ist.) Wie peinlich seine Homosexualität der institutionalisierten Forschung immer noch ist, zeigt am besten die große Winckelmann-Ausstellung in Weimar: Hier hat man das Schwul-sein gleich ganz an die dafür zuständige Stelle exiliert – das Schwule Museum Berlin. Weit weg von Weimar. Alter.
Also höchste Zeit, das Projekt #QueerIdealism wieder anzugehen, denke ich mir. Rettet Winckelmann und den Idealismus vor den aktuellen Antiquaren! Probieren wir aus, ob er für mehr taugt als das Sujet akademischer Qualifikationsarbeiten und Betriebstreffen zu sein.
Für alle, die selbst ein bisschen in das Thema einsteigen wollen, die Liste der Texte, die ich mir für den FAZ-Artikel angeschaut habe:
Paul Derks, Die Schande der heiligen Päderastie. Homosexualität und Öffentlichkeit in der deutschen Literatur 1750-1850, Berlin: 1990
Heinrich Detering, Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis zu Thomas Mann, 2017 (3. Überarbeitete Auflage)
Katherine Harloe, Winckelmann and the Invention of Antiquity. History and Aesthetics in the Age of Altertumswissenschaft, Oxford: 2013
Wayne Koestenbaum, The Queen’s Throat. Opera, Homosexuality, and the Mystery of Desire, New York: 1993
George Mosse, The Image of Man. The Creation of Modern Masculinity, New York: 1996
Alex Potts, Flesh and the Ideal. Winckelmann and the Origins of Art History, New Haven: 1994
Simon Richter, Winckelmann’s Progeny. Homosocial Networking in the Eighteenth Century, in: Alica A. Kuznar, Outing Goethe and his Age, Stanford: 1996 (S. 33-46)
Wolfgang Setz, Die Geburt des Homosexuellen aus dem Geist der Literatur, in: Forum Homosexualität und Literatur 26 (1996), S. 7 -25
Wolfgang von Wangenheim, Der verworfene Stein. Winckelmanns Leben, Berlin: 2005
Winckelmann. Das göttliche Geschlecht, Katalog der Ausstellung im Schwulen Museum Berlin, 2017, hrsg. v. Wolfgang Cortjeans, Petersberg: 2017
Meine Diss könnt Ihr hier lesen:
http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2006/2883/
Noch nicht gelesen, aber super einschlägig:
W. Daniel Wilson, Goethe Männer Knaben: Ansichten zur „Homosexualität“, Frankfurt a. M.: 2012
Robert Deam Tobin, Warm Brothers. Queer Theory and the Age of Goethe, Philadelphia: 2000.
„Waren jedoch die Alten, so wie wir von ihnen rühmen, wahrhaft ganze Menschen, so mußten sie, indem sie sich selbst und die Welt behaglich empfanden, die Verbindungen menschlicher Wesen in ihrem ganzen Umfange kennenlernen, sie durften jenes Entzückens nicht ermangeln, das aus der Verbindung ähnlicher Naturen hervorspringt.
Auch hier zeigt sich ein merkwürdiger Unterschied alter und neuer Zeit. Das Verhältnis zu den Frauen, das bei uns so zart und geistig geworden, erhob sich kaum über die Grenze des gemeinsten Bedürfnisses. Das Verhältnis der Eltern zu den Kindern scheint einigermaßen zarter gewesen zu sein. Statt aller Empfindungen aber galt ihnen die Freundschaft unter Personen männlichen Geschlechtes, obgleich auch Chloris und Thyia noch im Hades als Freundinnen unzertrennlich sind.
Die leidenschaftliche Erfüllung liebevoller Pflichten, die Wonne der Unzertrennlichkeit, die Hingebung eines für den andern, die ausgesprochene Bestimmung für das ganze Leben, die notwendige Begleitung in den Tod setzen uns bei Verbindung zweier Jünglinge in Erstaunen, ja man fühlt sich beschämt, wenn uns Dichter, Geschichtschreiber, Philosophen, Redner mit Fabeln, Ereignissen, Gefühlen, Gesinnungen solchen Inhaltes und Gehaltes überhäufen.
Zu einer Freundschaft dieser Art fühlte Winckelmann sich geboren…“
LikeLike
Vielen Dank für den Text und die lektürehinweise!
LikeLike