Mitte der 1990er, also quasi im Pleistozän, machte Roland Barthes „Fragmente einer Sprache der Liebe“ in unserem Graduierenden-Zirkeln an der geisteswissenschaftlichen Fakultät einer deutschen Provinz-Uni Karriere als the book to read. 30, 40 Leute zwischen 25 und 30, per Stipendium und anderer staatlicher oder elterlicher Fördermittel vom direkten Druck befreit, sich um die materielle Basis der eigenen Existenz kümmern, zu einer Lebens- und Arbeitsgemeinschaft zusammengesperrt. Graduiertenkolleg nannte (und nennt) man das. Extreme Individualisierung, – wir waren ja allen wegen unseres ganz speziellen Graduiertenprojektes und unserer ganz persönlichen Kompetenzen ausgewählt worden –, trifft auf extremen Konformitäts- aka Leistungsdruck. Denn es ist klar: Die wenigstens von uns werden einen anständig bezahlten Job an der Uni bekommen oder im wissenschaftlichen Feld, es muss gestrampelt werden. Aber niemand weiß wirklich, wo oben und unten ist, vorne und hinten. Also wohin strampeln? Aber ein bisschen wissen wir es schon, oder eher: unser aus 200 Jahren Intelligenz-Patriarchat und -Heteronormativität bestehende Un/ter/bewusstes weiß. Es werden die Männer sein, die die Professuren bekommen werden; die Männer, deren Väter schon Professoren waren, oder wenigstens Jurist, oder Arzt. Also verwandelt sich der Stress, immer irgendwelche Vorträge zu halten, immer irgendwie originelle Ideen zu produzieren, immer etwas besonderes zu sein, immer Systemkompatibilität zu signalisieren, aber nie karrieristisch zu wirken (das galt – und gilt – natürlich und fast ausschließlich für die Frauen), in einen psycho-sexuellen Emo-Klumpen, den wir gelernt hatten, Liebe und Begehren zu nennen. Barthes Florilegium der Tropen, Klischees, diskursiver Formen und Verhaltensformen der (Sprachform) Liebe hilft uns dabei, uns darin als etwas besonderes zu fühlen.
Denn das ist ja die Prämisse der „Fragmente einer Sprache der Liebe“: Diese Differenz zwischen dem durchformatiertem und zutiefst vorhersehbare Drehbuch un/glücklicher Liebesbeziehungen, das wir brav emotional abarbeiten, und der Intensität „unserer“ Gefühle, die ist ja der Beweis für die Exzentrizität des Liebenden – der / die das quasi um der Sache willen macht. Ein bisschen die Materialität der Zeichenproduktion ignorierende Semiotik, ein bisschen populärpsychoanalytischer Hokuspokus – und schon umflort die eigene 08/15-Biographie der barthesianische Schein der Besonderheit, der Stumpfsinn des eigenen ständigen Verwechselns von Liebe, Machtwille und Manipulation erhält metaphysische Tiefe, das Prokrastinieren einer akademischen Qualifikationsarbeit durch emotionale Verwirrungen wird zur mystischen Erfahrung. Und nicht zuletzt erhält der ganze Wust an ambivalentem Fühl, mit der fast alle an diesem Projekt Dissertation sitzen, eine narzisstisch befriedigende Form: Ich – das ist halt was Besonderes, auch und gerade im Scheitern – als Liebende/r, als Dissertierende/r, als Schreibende/r (?).
Über Fragmente aus den „Fragmenten einer Sprache der Liebe“ zu kommunizieren, war unsere Art, Ich zu sagen. Es war wichtig, dass die anderen wussten, dass das nicht die eigene Sprache, der eigene Text war, sondern der große kanonisierte Theorie-Text, aber eben doch die eigenen Gefühle, das eigene Ich darin sprachen. Oder vielleicht auch nicht. Barthes war unser Tinder-Text – oder doch nicht? Um den TEXT, gerade weil um diesen un- und überdefinierten Begriff von post-whatever Kultur- und Literaturwissenschaftlern, die wir lasen oder hörten soviel, angeblich kritisches, Gewese gemacht wurde, wehte der Geruch der Heiligkeit nur noch viel stärker. (Es gab, natürlich fast keine Frauen darunter.) Niemand von uns hätte so schreiben können wie Sarah Berger in „Match Deleted“, auch wenn sich ihre Fragmente einer Sprache der Liebe auf den ersten Blick so lesen lassen. Jede/r von uns schrieb natürlich die Diss (und die geheimen & nicht so geheimen literarischen Projekte, an denen vor allem die Jungs arbeiteten) auf einem Computer, aber die Erfahrung, massenweise Text einfach so zu produzieren, fast so als ob man spräche, und überall von Massen an Text ganz nah umwoben zu sein, diese Erfahrung hatten wir noch nicht gemacht. Erst jetzt, wo wir einen erklecklichen Teil des Tages und der Nacht damit verbringen zu texten, und zwar ganz gleich ob wir geisteswissenschaftlich hoch dekoriert sind oder im Leben noch kein einziges Buch gelesen haben; erst jetzt, wo wir in einem digitalen Raum leben, der uns zum großen Teil als Schreiben umgibt und in dem wir uns schreibend bewegen, erst jetzt ist vom GROSSEN TEXT der Lack ab. Und damit auch von der großen Liebe. Und vom großen Ich.
Oder doch nicht? Denn versucht nicht das / ein Ich da, in den kleinen Textfetzen und Stories, aus denen „Match Deleted“ besteht, noch einmal, mit aller Macht die Liebe zu erzwingen, indem es sich selbst mehr oder weniger unbefriedigenden Gelegenheitssex noch einmal mit dem großen Liebessemantik-Apparat erzählt, literaturtheoretische Selbstreflektion und metafiktionale Ebene gleich mit dabei? Versucht, aus mehr oder weniger zufälligen Begegnungen, real und digital, mit den unterschiedlichsten Typen eine kohärente Erzählung zu machen? Die Machination eines Algorithmus, der die Arbeit übernimmt, die bei uns im Graduiertenkolleg von der Auswahlkommission gemacht wurde, in emotionalen Sinn zu verwandeln? In die eigene Geschichte? Und das ist, zumindest für Frauen und schwule Männer wie Barthes die bekannteste Geschichte von der ganzen Welt: die Geschichte von der unglücklichen Liebe und ihrer leidenden Heldin.
Oder versucht da jemand das genaue Gegenteil: Dem Ich diese post-spätromantischen Flausen auszuschreiben, bei Gelegenheitssex suche man (also natürlich vor allem Frauen) nach der wahren Liebe und nach seinem wahren Ich à la Lars von Triers Nymphomaniac, indem in rasender Geschwindigkeit die dazugehörenden Sprach- und Situationstropen durchexerziert werden? Vorzuführen, dass dieser ‚Erkannt werden und die Iche miteinander verschmelzen’-Kram nichts anderes ist als ein Schreibprogramm, dass die Elemente der schon ziemlich korrumpierten Text-Datenbank „Liebe“ einfach immer nur wieder kopiert?
Aber was wäre, wenn dieses Programm endlich wirklich am Ende, das große Liebe–Subjekt-Wahrheit-Skript unleserlich geworden wäre? Wer wäre man dann? Wer schriebe? Und gäbe es dann etwas, das sich schreiben lässt, wenn das Subjekt, die Differenz von Innen und Außen, das von Texten möblierte Innenleben verschwunden sind? Was schriebe die Frau in dem kleinen, weißen Häuschen mit drei Fenstern und einer Tür, postiert am Westeingang des Tempelhofer Feldes, an dem nichts passiert?
Sarah Berger, Match Deleted. Tinder Shorts, Frohmann: Berlin 2017 kostet 19,90 Euro. Hier kann man es bestellen: http://orbanism.com/produkt/gebundenes-buch-match-deleted-tinder-shorts-sarah-berger-berlin-frohmann-2017/ Man bekommt dafür ein sehr schön gemachtes, gebundenes Buch mit Lesebändchen. Kauf- und Lese-Empfehlung. Definitiv. Sarah Berger schreibt auch einen Blog: https://milchhonig.wordpress.com/
Ein Kommentar zu „Serienmodell – Über „Match Deleted. Tinder Stories“ von Sarah Berger“