Gestern habe ich meine zweite Impfung mit Comirnaty von BionTech bekommen. Diesmal im Impfzentrum Liederhalle in Stuttgart, der Stadt, in der ich zuhause bin. Für meine erste Impfung musste ich vor fünf Wochen nach Offenburg fahren. Fast einmal quer durchs Bundesland. Weil es bis weit in den Mai hinein nicht möglich war, über die offiziellen Zugänge einen Impfslot in einem Impfzentrum in zirka 50 Kilometer Umkreis zu bekommen. Offenburg war das erste Impfzentrum überhaupt, das mir nach drei Wochen täglicher Teilnahme an der Vergabe-Lotterie einen Termin anbot, nachdem ich die Ortsangabe von „50 Kilometer im Umkreis“ auf „Baden-Württemberg“ geändert hatte. Den zweiten Impftermin konnte ich letzte Woche nun ganz einfach umbuchen, weil auf einmal alles anders zu sein scheint: Überall Impfstoff, angeblich nur noch wenige Imfpwillige. Aber vielleicht stimmt das gar nicht, zumindest was die Zahl der Impfwilligen angeht. Ich denke das, weil ich ja selbst fast zu denen gehört hätte, die im Sommer immer noch nicht geimpft sind. Und das, WEIL ich mich an die vom Bundesgesundheitsministerium und von meinem Bundesland aufgestellten Regeln gehalten habe und mich solidarisch gegenüber Menschen verhalten wollte, für die aufgrund ihrer persönlichen Situation wie Gesundheitszustand oder Arbeitsplatz und prekäre Lebensverhältnisse eine Impfung gegen Covid19 viel wichtiger war als für mich.
Anfang, Mitte April war ich dann mit meiner Geduld und auch mit meinen Nerven am Ende: Meine Impfung über den Arbeitgeber meines Mannes löste sich in Luft auf, weil an die Betriebsärzte in Baden-Württemberg nicht mal ansatzweise die Menge an Impfstoff geliefert werden konnte, die zu Anfang in den Raum gestellt worden war. In derselben Woche dröhnte Jens Spahn die Öffentlichkeit damit voll, dass nun wirklich jeder ein Imfpangebot bekommen habe. Als sei die Beauftragung des Schaltens einer erstaunlich dysfunktionalen Website für die Impflotterie wirklich alles, was man vom Bundesministerium erwarten könne, das für das Management der größten Herausforderung des Gesundheitssystem des Landes seit 1945 zuständig ist. (Aber immerhin nix mit Blockchain und KI, man muss ja schon für wenig dankbar sein.) In meinem weiteren Umfeld waren Menschen geimpft, die auf keiner Prio-Liste standen, aber gute Kontakte zu Ärzt:innen oder null Skrupel hatten, Arztpraxen rund um die Uhr mit Anrufen zu bombardieren oder sogar in der Praxis Skandal zu machen, um einen Impftermin zu bekommen. Ich komme aus einer Arbeiter- und Bauern-Familie, dazu noch sehr im Geiste protestantischer Ethik erzogen: Solche gerade für aus gutbürgerlichen Schichten kommende Menschen als völlig normal geltenden Verhaltensweisen fallen mir extrem schwer. Ich halte sie nicht für normal, sondern für ethisch inakzeptabel. Ich begab mich also in die offiziell gemanagte Impflotterie.
Drei Wochen lang war ich komplett erfolglos, mir auch nur einen Code zu ergattern: Wahrscheinlich meine Schuld, denn ich saß nicht nachts stundenlang am Rechner, mit 15 offenen Tabs, sondern nur 2, 3 Stunden pro Tag – und das reichte nicht. Und selbst als ich Vermittlungscodes hatte, gab es keine Termine, weil gerade wieder ein Lieferengpass war oder die STIKO sich mal wieder für, gegen oder vielleicht zu einem der Impfstoffe geäußert hatte. Ein Kontakt auf Twitter (Danke, Twitter!) zeigte mir Impfradar, eine von einer Programmierbude im Prinzip ehrenamtlich programmierte Suchmaschine für freie Impftermine. Als ich da, irgendwann völlig entnervt, den Suchradius auf „Baden-Württemberg“ erweiterte, ploppte Offenburg auf. Und ich schnappte mir den Termin, auch weil ich mir sicher sein konnte, da schon irgendwie hin zu kommen. Mein Mann konnte sich für den Termin, einen Freitag, einen Tag Urlaub nehmen und kutschierte mich nach Offenburg, ins Impfzentrum in der Messe. Es war ein sehr schöner Tag. Eigentlich hätte ich meinen zweiten Impftermin am Freitag, den 6. August, in Offenburg gehabt – und bis vor gut einer Woche wollte ich den auch einhalten, um niemand anderem hier in Stuttgart einen Platz wegzunehmen. Als das Stuttgarter Impfzentrum in der Liederhalle begann, offene Termine anzubieten, buchte ich dann um. Weil ich sicher war, ich nehme niemandem was weg.
Ich vermute, es gibt gar nicht so wenige Menschen wie mich, die noch nicht geimpft sind oder noch nicht vollständig geimpft sind, weil sie sich, aus guten ethischen Gründen, an die Regeln gehalten haben, solidarisch sein wollten – und dann jetzt erst überhaupt eine Chance haben, einen Impftermin zu bekommen. Oder Menschen, die sich gern impfen lassen würden, aber so oft an der teilweise barock gestalteten Impfterminvergabe online und am Telefon gescheitert sind, dass sie einfach aufgegeben haben. Oder deren Teilnahme an der Impflotterie schon daran scheitert, dass es bei uns eben nicht selbstverständlich ist, dass es einen leicht verständlichen Zugang zur Impfinfrastruktur gibt, in Sprachen, die sie besser lesen und verstehen können als deutsch. (Und selbst in deutsch sind Verständlichkeit und Zugänglichkeit der Webseiten ein schlechter Witz.) Oder Menschen, die noch nicht geimpft sind, weil sie so prekär beschäftigt sind oder leben müssen, dass sie keine Zeit und keine ökonomischen Ressourcen frei haben, um in die Impflotterie einzusteigen oder Termine in Impfzentren wahrzunehmen, die oft in Industriegebieten liegen. Oder Menschen, die glauben, sie müssten für die Impfung bezahlen, weil sie nicht Mitglied einer Krankenkasse sind. Oder Menschen, die sich davor fürchten, die Impfung würde dazu benutzt, Leute mit ungeregeltem Aufenthaltsstatus zu identifizieren. Oder Menschen, die auch nach 18 Monaten Pandemie davon überzeugt sind, dass jüngeren, gesunden Männern wie ihnen der Virus gar nix anhaben können, den würden sie fix wegstecken. Oder Menschen, denen nicht klar ist, dass mit der Delta-Variante eine viel aggressivere Virus-Version unterwegs ist, als die vor einem Jahr.
Anstatt sich darauf zu konzentrieren, diesen Gruppen einen Zugang zum Impfen zu ermöglichen, und sei es mit nem Thüringer Bratwurst-Grillevent oder einem Spiel des VfB Stuttgart, kapriziert sich die öffentliche Debatte auf die Menschen, die sich aus ideologischen Gründen nicht impfen lassen wollen und nicht impfen lassen werden, und auf die, mir etwas phantasmatisch erscheinende Figur der Impfmüden, die einfach zu faul oder zu wurschtig sind, sich impfen zu lassen. Gerade Politiker*innen scheinen lieber von Impfpflicht und dem Ausschluss von Ungeimpften von Veranstaltungen, Restaurants etc. zu reden, als sich darum zu kümmern, dass der Zugang zum Impfen deutlich erleichtert wird – durch Maßnahmen, die zu den Leuten passen, die wir impfen wollen, und nicht welchen, die sich am einfachsten bürokratisch abwickeln lassen. Oder warum schließt zum Beispiel Stuttgart ausgerechnet dann das Impfzentrum, das durch die Innenstadtlage für viele Menschen einfach zugänglich ist, wo es genug Impftstoff gibt, um jeden Tag Open Impfen zu machen? Oder wo bleiben, ein halbes Jahr nach dem Start der Impfkampagne, die einfach zugänglichen Informationen zu Covid19 und der Impfung in den Sprachen, die eben in Deutschland gesprochen werden? Oder wo bleibt die Impfkampagne, die sich an jüngere Menschen richtet, die sich in falscher Sicherheit wiegen? Warum müssen das schon wieder alles schlecht ausgestattete bürgergesellschaftliche Gruppen auf die Beine stellen, die in Sachen Unterstützung gegen Belästigung durch Corona-Leugner auch noch regelmäßig von den staatlichen Ordnungskräften im Stich gelassen werden? Stattdessen hauen wir jetzt Ressourcen für Schleierfahndung nach Leuten raus, die nach ihrem Urlaub keine Quarantäne einhalten oder nicht getestet sind – auf dubioser Faktenlage und ohne dafür irgendeine sinnvolle Methode an der Hand zu haben, wie das überhaupt funktionieren soll.
Heute, an dem Tag, an dem ich das schreibe, sind 91.633 Menschen in Deutschland an ihrer Corona-Infektion gestorben, eine mittlere deutsche Stadt, in 18 Monaten. Aber unsere Regierungen auf allen Ebenen behandeln die Pandemie-Bekämpfung immer noch größtenteils wie das Hobby einiger seltsamer Nerds.
Ich habe überlegt wie ich am besten darauf reagieren könnte und mir fällt nur eins ein: I feel you! Und zwar soooo sehr.
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