Das Kerner-Haus in Weinsberg ist ideal, um darin eine Pandemie zu überstehen: Ziemlich weitläufig, gut geschnitten, umgeben von einem großen Garten, der von einem Stück der mittelalterlichen Stadtmauer mit Türmchen begrenzt wird, das Kerner zu einer Art Gästehaus hat umbauen lassen. Es trägt den pittoresken Namen Geisterturm. Wohl eher eine Hommage an den geisterforschenden Bauherren, denn die Legenden, die sich angeblich um den Turm rankten, konnte anscheinend schon 1826 niemand so recht erinnern, als die Kerners die Ruine erwarben. Da hieß der Turm auch noch Diebsturm. Das einzig Geisterhafte, was man dort sehen konnte, waren wahrscheinlich die großen Wäschestücke, die Friederike Kerner, ihre Töchter und die Hausangestellten manchmal auf dem Turm oder dem Rasen davor zum Bleichen und Trocknen aufhingen. Die Kerners hatten sich beim Umbau des alten Gemäuers 1826 dort auch eine moderne Waschküche einbauen lassen: Die Wäscherinnen hatten so ordentlich Platz, die Waschküche ließ sich außerdem gut lüften und im Wohnhaus hatte man seien Ruhe vor dem Arbeitslärm. Vor allem aber hatte man keinen Ärger mit feuchten Dämpfen, die sonst bei jedem Waschtag durch das Haus zogen. Und man war von den öffentlichen Waschhäusern unabhängig. Dazu kamen noch heute nicht mehr erhaltene Stallungen und ein paar andere Wirtschaftsgebäude. Zur Hauswirtschaft gehörte außerdem noch ein Nutzgarten und Obststücke, und natürlich ein Brunnen. Man hätte hier also relativ autark vor sich Hinwirtschaften können, wenn einem danach gewesen wäre oder die Weltläufte es geboten erscheinen gelassen hätten.
Aber Justinus Kerner neigte überhaupt nicht zum Eremitentum, im Gegenteil: Er ließ das Haus unter anderem deswegen so großzügig bauen, weil er ein extrem geselliger Mensch war. Natürlich hatte das Haus auch repräsentative Funktionen, Justinus Kerner war Oberamtsarzt, aber die Kerners brauchten vor allem Platz für ihre Gäste, – und für seine Geselligkeit und Gastfreundschaft war Kerner zu Lebzeiten dann auch mindestens genauso berühmt wie als Schriftsteller, Naturwissenschaftler, Psychologe und Geisterforscher. Die Biographie seines Vaters schrieb Theobald Kerner, selbst Arzt, Schriftsteller und ein 1848er-Revolutionär mit ein paar Monaten Festungshaft auf dem Hohenasperg im Lebenslauf, dann auch als Biographie dieses Hauses: Das Kernerhaus und seine Gäste, erschienen 1894. Das Buch beginnt mit der Erinnerung an die kurzfristigen Ausquartierungen aus dem Kinderzimmer, wenn abends überraschend noch Übernachtungsgäste auftauchten; und an die Schauergeschichten über das, was im Geisterturm-Gästehaus sein Wesen treibt, die sich der pubertierende Theobald eigens für die Professoren ausdenkt, die seinen spiritistisch und esoterisch engagierten Vater nur deswegen besuchen, um sich im Stillen über ihn lustig zu machen. Noch in dem fast 70 Jahre später verfassten Text spürt man seine Genugtuung, wenn der Herr Professor übernächtigt und schlecht gelaunt am nächsten Morgen zum Frühstück auftaucht.
Dass das Haus dafür gemacht worden ist, auch fremde Menschen freundlich zu empfangen und zu beherbergen, das strahlt es auch heute noch aus – quasi als Museum seiner selbst. Seit Juli kann man es auch tatsächlich wieder besuchen – und am 6. August, einem sommerlichen Freitag haben wir das auch gemacht. Eigentlich wäre das der Tag gewesen, an dem ich meine zweite Impfung in Offenburg bekommen haben würde, aber ich wurde schon eine Woche vorher in der Liederhalle zweitgeimpft. Den freien Tag haben wir uns trotzdem freigehalten und mir einen lang gehegten Wunsch erfüllt: endlich einmal Justinus Kerner zu besuchen.
Wahrscheinlich ist das Kernerhaus, obwohl es am Fuß einer beliebten Touristenattraktion liegt, der Burg Weibertreu, deren touristisches Potenzial noch von Kerner selbst gesehen und entwickelt wurde, nie so wirklich überlaufen. Jetzt, nach 18 Monaten Pandemie, waren wir beide aber tatsächlich die einzigen Gäste, die vom Museumsleiter begrüsst wurden wie endlich wieder erscheinende alte Freunde des Hauses. Unter ständigem Beteuern, eigentlich dürfe man ja im Augenblick gar keine Führungen machen, führte er uns, „zur Orientierung“, schnell durchs ganze Haus – und überließ uns dann uns selbst. Irgendwo im Haus summte ein Staubsauger, Glas klirrte leise, jemand sang ein Lied, dessen Sprache wir nicht verstanden. Holzdielen knarzten. Aus dem Garten duftete es nach gemähtem Gras. Die Kirchturmuhr schlug an. Hätte sich der ehemalige Hausherr aus seinem Lesesessel neben einem der Fenster zum Garten erhoben und einen begrüsst, es hätte einen kein bissle erstaunt. Und sicher nicht erschreckt. Denn das, was das Kernerhaus und die Ausstellung in ihrem doch deutlich In-die-Jahre-gekommen-sein überzeugend vermitteln, ist der Eindruck, dass Justinus Kerner ein guter Mensch gewesen ist: beeindruckbar und interessiert an der konkreten Welt und den Menschen um ihn herum. Ein freundlicher Mann mit vielen Interessen, der seine Kinder, seine Frau und die „kleinen“ Leute, für die er als Amtsarzt verantwortlich war, ernst nahm, – und zwar so, dass gerade die Zutrauen zu ihm fassten, die Gründe gehabt hätten, einem Oberamtsarzt zu misstrauen: Menschen, deren Weltwahrnehmung und Verhalten nicht recht mit dem übereinstimmten, was ihre Umgebung für angemessen, vernünftig, akzeptabel, gottesfürchtig, für „normal“ hielt. Aber statt sie zu disziplinieren, interessierte sich Kerner für das, was ihm diese Leute erzählten und versuchte, den Sinn hinter ihrem Tun und vor allem Reden zu erschließen. Seine berühmteste Patientin war Friederike Hauffe, deren Visionen einer Welt jenseits unserer Welt er aufzeichnete und in einer Art Krankheitsroman aufzeichnete, Die Seherin von Prevorst. Eröffnungen über das innere Leben des Menschen, und über das Hereinragen einer Geisterwelt in die unsre, 1829 bei Cotta erschienen. Hauffe hatte die letzten zwei Jahre ihres Lebens bis zu ihrem Tod im August 1829 bei den Kerners im Kernerhaus gelebt. Das Buch wurde ein Bestseller, aber schon zu Lebzeiten Hauffes zog die Lebensgemeinschaft von körperlich schwer kranker Geisterseherin und Arztfamilie medizinische Koryphäen, romantische Suchende und schlicht Neugierige an. Darunter Schelling, Franz von Baader, Görres, Schleiermacher, den Nachtseiten der Naturwissenschaften-Schubert etc. Hauffe und ihrer Geisterwelt ist im Kernerhaus auch heute ein eigenes Zimmer gewidmet: Ausgestellt ist unter anderem der Nervernstimmer, eine von Hauffe selbst konzipierte Apparatur, die Kerner, der als Jugendlicher als Schreiner gearbeitet hatte, nach ihren Vorgaben baute. Dazu ein Magnetisierbottich, – Kerner war ein Anhänger der proto-psychologischen Theorien Franz Anton Mesmers –, und Kerners Versuche, Hauffes Visionen und die Struktur der „inneren Welt“ in Diagrammen und Schemata darzustellen. Dass es in diesem Raum keinerlei Erklärung dazu gibt, was man da eigentlich sieht, trägt nicht unerheblich zu dem Eindruck bei, Doktor Kerner käme gleich von einer Visitation in Weinsberg zurück, um einem zu erklären, wie der Nervenstimmer funktioniert. Oder einen damit zu behandeln. Denn wahrscheinlich war er auch für einige seiner literarischen Gäste, so die als schwermütig diagnostizierten Nikolaus Lenau und Prinz Alexander von Württemberg, die beide längere Zeit bei ihm wohnten, nicht nur ein Freund, sondern auch ein Therapeut.

Kerners proto- und para-psychologische Praxis gehört zu den allerletzten Augenblicken, in denen Geisterseherei, Stimmen aus einer anderen Welt zu hören und andere außer- und übersinnliche Fähigkeiten noch nicht komplett pathologisiert waren. Kerner konnte sich davon noch Einblicke in eine geistige Welt jenseits der uns sonst zugänglichen versprechen. Es galt noch nicht als völlig absurder Gedanke, dass der menschliche Geist und die menschliche Seele irgendwie mit noch viel geistigeren, immateriellen Wesen, Kräften, Energien kommunizieren könnten, die uns selbst und die Wesen um uns herum beleben und beseelen. Und dass man mit dieser Welt zum Beispiel auch mit Hilfe des Spielens einer Maultrommel Kontakt aufnehmen könne: Kerner hat schon als Kind bemerkt, dass sein Maultrommelspiel die Kranken in der Ludwigsburger Irrenanstalt beruhigte. Wahrscheinlich hat er auch als Medizinstudent in Tübingen, der in der dortigen Anstalt auch Friedrich Hölderlin versorgte, seinen Patienten auf der Maultrommel vorgespielt. Kerners Maultrommeln in unterschiedlichen Größen kann man dann auch in einer Vitrine im Museum bewundern. Auch hier muss man sich die Funktion der Maultrommeln als Kommunikationsinstrument mit der Geisterwelt, was das auch immer sein mag, mehr aus der Konstellation der Objekte und ein paar verstreuten Bemerkungen zusammenreimen, als das man darüber etwas systematisches erfährt. So erfährt man auch nicht, ob Kerner wusste, dass Maultrommeln zu den ältesten Instrumenten der Welt gehören und dass sie bei Turk-Völkern, Mongolen und Hunnen Ost- und Südostasiens auch bei schamanischen Ritualen eingesetzt wurden (und werden). Oder ob und was Kerners Begeisterung für die Maultrommel etwas mit der Maultrommel-Mode zwischen 1800 und 1830 zu tun hatte, als das Maultrommelspielen in den Königreichen Bayern und Kaiserthum Österreich aus der volksmusikalischen Verwendung in die Salons und zumindest kurzfristig auch in die Hochkultur wanderte – wenn auch als Marker dafür, dass man nun volkstümlich werde.
Ähnlich freischwebend, ohne Kontext jenseits von „Hat etwas mit der Familie Kerner zu tun gehabt“ hinaus, werden auch alle anderen Objekte präsentiert. Das macht natürlich auch den biedermeierlichen Charme des Ganzen aus: Der einzige fest etablierte Kontext ist der von Familienerbstücken der Kerners und so hat man beim Durchstreifen der Räume so ein ähnliches Gefühl, wie wenn man in Erinnerungsalben und Souvenirkisten von Urgroßeltern oder anderen Verwandten kramt, über die man nur noch wenig weiß. Aber genau das ist das Problem: Wer kaum etwas weiß über Kerner, die schwäbische Dichterschule oder überhaupt über die Welt in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Südwestdeutschland, der verlässt das Museum mit dem Eindruck, man habe es da mit einem etwas schrulligen Typ zu tun, der allen möglichen Gruschd zusammensammelte, dichtete, seltsamerweise ein paar politisch bedeutende Freunde hatte, bei allen beliebt war und an Geister glaubte. Und im Grunde ist der Eindruck auch für die Besucher:innen ganz ähnlich, die schon einiges über Kerner, die Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts, die Spätromantik und das Biedermeier oder auch Wissenschaftsgeschichte wissen.
Das ist dann doch sehr schade, denn im Kernerhaus liegt das Material für einige spannende Ausstellungen oder auch Einzelräume zu Themenkomplexen:
Was hat Kerners Geisterseherei und Spiritismus, seine (para-)psychologischen Forschungen mit seiner Sammelleidenschaft für religiöse Objekte aus dem Mittelalter oder mit deutlich volkskünstlerischer Herkunft zu tun? Kerner und seine volkskundlichen Interessen (er hat die Burg Weibertreu zum landeskundlichen Ausflugsziel des württembergischen Bürgertums gemacht und ein Buch über das Weinsberger Blutostern, einem wichtigen Ereignis im Bauernkrieg, geschrieben) sind erstaunlich un-deutschtümmelnd. Hier ist anscheinend keiner auf der Suche nach einer Vorgeschichte und Legitimierung für ein einig Volk und Vaterland, wie es einen oft aus den Texten anderer romantischer und spätromantischer Proto-Volkskundler anweht. Vielleicht hat Kerner auch deswegen keine Probleme damit, das Christentum als Teil einer Volkskultur zu sehen und nicht bei volkskulturellen Artefakten irgendwelche verborgenen „heidnischen“ Ursprünge oder Erinnerungen zu vermuten. (Dass Volkskunde und Folklore in Deutschland so extrem anfällig für die Vereinnahmung oder Integration in faschistische und völkische Ideologien waren und sind, hat ja zentral mit der Rolle zu tun, die der ganze Komplex seit der Romantik für den deutschen Kultur-Nationalismus spielt.)
Oder die Frage, inwieweit sind Religiosität und häusliche Handarbeiten Räume, in denen sich weibliche Kreativität (in der Provinz) ausleben, ausbilden und weiterentwickeln kann, während sich im offiziellen kulturellen Diskurs das klar binär gefasste Gender-Regime der heteronormativen bürgerlichen Kleinfamilie etabliert? Im Haus finden sich überall von den Frauen des Hauses hergestellte, aufwändige Handarbeiten, aber auch Stickereien und andere textilkunsthandwerkliche Objekte, die Kerner geschenkt wurden oder die er gesammelt hat. Sie wurden nicht nur liebevoll aufbewahrt, einige Stücke wurden auch gerahmt und scheinen Teil der Kernerschen Sammlung gewesen zu sein.
Überhaupt die Kernersche Sammlung: Welchen Status hatte sie für ihn und seine Arbeit? Inwieweit ist die Übergängigkeit zwischen Kunst, Kunsthandwerk und populärkultureller Massenware Resultat bewusster Entscheidungen? Was bedeutet es, dass Kerner Objekte seiner Sammlung auch (oder vor allem?) als dekorative Elemente für sein Haus nutzte? Die Selbstverständlichkeiten, mit der im Kernerhaus Kunst, Kunsthandwerk, Selbstgebasteltes, industriell produziertes wie Bilderbögen, Glanzbilder und Zweitschriften-Lithografien mit- und ineinander existieren, ist wirklich frappant. Und wie steht Kerners eigener künstlerischer Dilettantismus und seine (kunst-)handwerkliche Ausbildung dazu? (Kerner hat Schreiner gelernt; einige Möbel in seinem Haus sind von ihm selbst gemacht.) Mit den Prinzipien einer klassisch-bildungsbürgerlichen Sammlung, wie man sie, ausgehend von Goethes Sammlung im Frauenplan in Weimar kennt, scheint das alles recht wenig zu tun zu haben. (Fast symbolhaft für dieses Abweichen vom Muster erscheint mir der Standort der sehr guten, aufwändigen und sicher teuren Laocoon-Kleinplastik, eine Kopie des großen, ruhmreichen Originals, die Kerner vom König von Württemberg geschenkt bekommen hatte und die so hoch oben auf dem Schrankteil des großen Sekretärs steht, das der Schreibende sie kaum sieht. Und zum Schreiben zog Kerner sowieso den von ihm selbst geschreinerten Schreibtisch dem großen, repräsentativen Trum vor, das ihm seine Kinder fürs Alter geschenkt hatten.) Auch wenn bei ihm Schriftsteller:innen und Künstler:innen ein und ausgingen: Vom Geniekult und Kunstautonomie, die einem sonst in Dichtermuseen gerne entgegenschwappen, spürt man im Kernerhaus fast nichts, dafür bekommt man aber ein recht deutliches Bild davon, dass es in diesem Haus Kinder gab – und dass Kerner in die Care-Arbeit für seine Kinder involviert war.

Trotzdem das Kernerhaus als Museum unter seinen Möglichkeiten bleibt, als Zufluchtsort während einer Pandemie oder wenn einem die Last der Welt schwer auf den Schulter liegt, ist es ideal. Immer noch.
Das Kernerhaus ist geöffnet: Freitag bis Sonntag
von 14.00 -17.00 Uhr
(ausser am 1. Sonntag im Monat)
Vielen Dank für diesen schönen Beitrag über dieses Kleinod von Museum!
Praepandemic hätte ich ja eingeräumt, dass Okkultismus eine gewisse Faszination auf mich hat. Jetzt hat dies so einen Touch von Schwurbelei.
Das Kerner-Museum kommt auf alle Fälle mal auf die To-see-list.
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