Ich habe dieses Buch sehr gerne gelesen, was vielleicht auch mit der Situation zu tun hat, in der ich es gelesen habe. Trotzdem scheue ich mich, es uneingeschränkt zu empfehlen, weil zum einen die Qualität der einzelnen Essays (so würde ich die Textgattung mal beherzt nennen) etwas schwankend ist, – zu einigen Städten hat Huch einfach nicht so ein besonderes Verhältnis wie zu anderen –, zum anderen weil es doch manchmal ein bissle zu lebensphilosophisch-deutschtümelnd rauscht. Das ist, gerade für Leserinnen ohne große Erfahrung mit Texten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wahrscheinlich schon sehr irritierend, auch zurecht. Eine kommentierte Ausgabe würde das abfangen und erklären, aber leider, leider gibt es die für Ricarda Huch nicht.
Huchs Städtebilder gehören einem Genre an, dass von der Nazi-Literaturpolitik und ihren Folgen post 1945 in der deutschsprachigen Literatur weitgehend unmöglich gemacht worden ist, vor 1933 aber ein recht beliebtes Format in Magazinen und Feuilletons war: essayistische Stadtporträts bzw. eben Lebensbilder. Sowas findet sich schon bei Fontane in den Wanderungen durch die Mark Brandenburg, der aber auch nicht der Erfinder ist. Ich denke, das Format ist eine Kollektivschöpfung von Leuten, die für die dynamisch expandierende Massenmedienwelt ab den 1850er Jahren immer mehr attraktiven, politisch eher unproblematischen Content produzieren mussten, und dem Bedürfnis der Leser*innen nach Bildung und Unterhaltung, – und schlicht und ergreifend nach Ausflugstipps. Das ist ja auch der Beginn des Massentourismus, der Sommerfrische und der Sonntagsausflüge.
Die Idee dabei ist, dass Städte oder Orte und Landschaften selbst sowas wie organisch gewachsene Lebewesen sind, in denen sich alle Aspekte (Wirtschaft, die geographische Lage, einzelne Persönlichkeiten, soziale Lage und Dynamiken, Politik von innen und außen, Kultur, Alltag… etc,) ständig gegenseitig formen. In der etwas weniger philosophisch anspruchsvollen Version der Gattung sollen Leserinnen etwas von der Atmosphäre des jeweiligen Ortes und ein paar stabile historische sowie soziologische-ökonomische Fakten mitbekommen. In der von Huch geschriebenen, deutlich ambitionierteren Version versuchen die Verfasser*innen sich an sowas wie einer Darstellung bzw. Erfassung des Wesens einer Stadt, ihres Charakters. Das es sowas eigentlich gar nicht gibt, ist der typische (und natürlich wirklich sehr triftige) Einwand gegen dieses Genre, – und genau da setzt Huch ein: „Im Alten Reich“ ist weniger eine geographische als eine Zeitangabe. Was Huch beschreibt, sind quasi Geisterstädte. Sie nimmt sich kleine bis mittlere Städte aus der deutschen Provinz (aber 1927 alle auf dem Territorium der Weimarer Republik, das deutlich kleiner war als das „Alte Reich“), die vor sehr sehr langer Zeit, im Mittelalter, eine bedeutende Funktion im Heiligen Römischen Reich hatten, – und die jetzt, und das schon sehr, sehr lange, eigentlich viel zu klein sind (vor allem auch geistig), für die Größe (in allen Bedeutungen des Wortes) der Architektur und der urbanen Anlage, in der sie existieren. Man nimmt hier Teil an dem Leben von Städten, die es überhaupt nicht mehr gibt, und die von der Autorin aus alten Schriften, Volksüberlieferungen und -sagen sowie aus den architektonischen Restbeständen zusammengeklaubt, und in den sehr guten Essays förmlich heraufbeschworen werden. Legendäre versunkene Städte wie Vineta tauchen dann auch mehrfach als Referenz auf. Die Gegenwart der beschriebenen Städte taucht vorwiegend als defizient auf: Im besten Fall sind sie verschlafen, haben sich dadurch aber ihre schöne alte Gestalt weitgehend bewahrt, oder sie sind durch die Industrialisierung und den schlechten Geschmack des neureichen wilhelminischen Deutschen Kaiserreichs verschandelt, so dass man ihre einstige Schönheit nur noch in einzelnen, vergessenen Winkeln erfahren kann.
Was jetzt klingt, als würde hier jemand vor allem die gute alte Zeit beschwören und gegen eine als dekadent markierte Gegenwart in Stellung bringen wollen, wäre aber der falsche Eindruck: Huch macht sehr klar, dass das Zeiten und gesellschaftliche Zustände sind, die mit denen der Leser*innen nur sehr wenig zu tun haben, – und die schon gar nicht als Legitimation für die Wiedererrichtung des preussischen Kaiserreiches noch anderer homogenisierender und auf irgendwelchen rassistischen Reinheitsphantasien beruhenden Vorstellungen eines Deutschen Reiches taugen. Huch nimmt in den Essays nie explizit Stellung zur politische und historischen Debatte ihrer Zeit, aber als Leserin wird man den Eindruck nicht los, dass sie sehr bewusst gegen bestimmte national-konservative Positionen zur deutschen Geschichte anschreibt, aus einer selbst eher konservativen Position heraus. In ihrer Darstellung markieren zum Beispiel die sozialen und politische Konflikte, die in den Städten zwischen den verschiedenen stadtgesellschaftlichen Gruppen, Stadtadligen, Grundherren, Landesherren, Klöstern und Bischöfen ausgetragen werden, gerade die große Zeit der Städte. Es geht abwärts, sobald Konflikte nur noch mit Gewalt geregelt, Unterschiede wegrationalisiert und verwaltet werden, und die Gewaltausübung zu einem Privileg der Staatsmacht wird. In der Gesammelte Werke-Ausgabe, in der ich die „Im Alten Reich. Lebensbilder deutscher Städte“ gelesen habe, schließt sich vielleicht doch nicht ganz zufällig Huchs Biographie Michael Bakunins an.
Ich bin fast zufällig auf diese Essay-Sammlung gestoßen, für mich ein besonders glücklicher Zufall: Ich bin schon länger auf der Suche nach deutschsprachigen literarischen Vorbildern für Schreibweisen wie Place Writing oder Nature Writing bzw. nach der entsprechenden deutschsprachigen Tradition, weil ich immer noch denke, man kann das aus den Klauen der Nazis und des reaktionären Denkens befreien. In Huchs Essays sieht man sehr gut, wo die grundsätzliche Problematik dieses Genres liegt, aber auch, wie man damit kreativ und produktiv umgehen kann: im Geist von Geistergeschichten. Ganz besonders berührend wird dieser Geistergeschichten-Aspekt, wenn man sich klar macht, dass die Städte, die Huch für ihre Essays besucht hat, fast allem im Zweiten Weltkrieg zugrunde gegangen sind. Huch beschreibt oft Bauwerke und Kunstschätze, die dann in der Wikipedia mit „Im Krieg zerstört“ oder „Im Krieg verschwunden“ markiert sind.
Man kann sich die Gesammelte Werke-Ausgabe für kleines Geld bei Amazon und anderswo als eBook herunterladen. Wer lieber gedruckte Bücher liest: Man findet die Sammlung in zahlreichen Antiquariaten bei ZVAB und Booklooker. Und wer ein bisschen mehr ausgeben kann oder will, kann sich sogar noch eine Originalausgabe erstehen.